Wenn aus Cent-Artikeln lebensrettende Schätze werden
Das Robert-Koch-Institut empfiehlt seit Ende März den durchgängigen Einsatz von Mund- und Nasenschutz auch in Einrichtungen der Altenpflege. Doch nicht nur dort, sondern generell in Gesundheitswesen und Behindertenhilfe sind Schutzausrüstungen wie Kittel oder Mund-Nasen-Schutze ein gefragtes, aber rares Gut. Die Lieferanten reagieren darauf – nicht nur mit größeren Stückzahlen, sondern deutlich gestiegenen Preisen. »Für Artikel wie Mund- und Nasenschutz, die zuvor im Cent-Bereich lagen, werden nun sechs oder sogar zehn Euro aufgerufen«, sagt Björn Neßler, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtsverbände im Kreis Gütersloh und Vorstand der Diakonie Gütersloh. »Der Hinweis von Lieferanten, die uns solche fragwürdigen Angebote unterbreiten, lautet: Die Pflegeeinrichtungen könnten sich das Geld ja anschließend von den Kassen zurückholen. Das führt das ganze System ad absurdum und ist moralisch mehr als nur fragwürdig!« Er fordert von Land und Bund, die Träger der freien Wohlfahrtspflege sowie die Kreise und Kommunen nicht ungeschützt im Regen stehen zu lassen.
Die Preisentwicklung ist horrend: 35 Flaschen Handdesinfektionsmittel mit 150 Millilitern kosteten vor Corona 54 Euro, jetzt werden 209 Euro dafür veranschlagt; den Kanister mit zehn Litern Desinfektionsmittel gibt es aktuell für 260 Euro. Die Preise für einfachen Mundschutz haben sich von rund 2,70 Euro für 50 Stück vor Corona zu aktuell ab 1,50 Euro pro Stück (!) entwickelt. Die begehrten FFP2-Maske liegen mittlerweile bei zehn und mehr Euro pro Stück statt wie zuvor bei unter 50 Cent. Den Preisen stehen die Bedarfe gegenüber: Pro Woche benötigen allein die Träger der AG Wohlfahrt für ihre Arbeit mehr als 20.000 einfache Mundschütze. Burkhard Kankowski, Geschäftsführer von Verein Daheim, berichtet: »Kürzlich wurden mir angebliche FFP2-Masken, die wie bessere Filtertüten mit Gummibändchen aussahen, für 5,35 Euro das Stück angeboten. Vor einigen Wochen waren diese für 46 Cent zu haben. Ich glaube, das sind Erfahrungen, die auch alle anderen Pflegedienste machen.«
Dennis Schwoch, Vorstand DRK-Kreisverband Gütersloh, kann zudem verwundert folgende Erfahrung ergänzen: »Zum einen hören wir von unseren Lieferanten immer wieder, dass Lieferungen beim Zoll festhängen und sich die Auslieferungen dadurch erheblich verzögern. Zum anderen bekommen wir mit, dass Privatpersonen, die einen Behelfsmundschutz nähen, von Anwaltskanzleien abgemahnt werden.«
Auch Matthias Timmermann, Vorstand des Caritasverbands für den Kreis Gütersloh, sieht akuten Handlungsbedarf bei der professionellen Ausstattung: Selbstgenähte Schutzmasken statt notwendigem industriell gefertigtem FFP2-Schutz, Regenponchos statt ordentlicher Schutzanzüge – dies sei die aktuelle Situation, die es schnellstens zu verändern gelte. Sein Appell: »Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sollten darüber nachdenken, mittel- und langfristig Produktionskapazitäten für Schutzausrüstung in Deutschland vorzuhalten. Dies kostet natürlich Geld und ist teurer – aber das sollte es uns für eine gesunde Zukunft wert sein.« Deutlich günstiger als die derzeitigen Wucherpreise sei es allemal.
Professionelle Ausrüstung ist auch unabdingbar für die Versorgung von Infizierten, die nicht ins Krankenhaus, aber von den ambulanten Diensten weiter gepflegt werden müssen. Olaf Lingnau, Bereichsleitung Pflege bei der Diakonie im Kirchenkreis Halle, sieht die Versorgung der Pflegebedürftigen gefährdet: »Dafür benötigen wir dringend Atemschutzmasken nach DIN FFP2 oder FFP3.« Man könne die Mitarbeitenden schließlich nicht in Gefahr bringen. Außerdem sieht er die Not der überlasteten Gesundheitsämter und Diagnose-Zentren. Er fordert eine Erhöhung der Kapazitäten sowie schnellere Testungen. Denn: »Wir stehen noch am Anfang der Krise«, gibt Lingnau zu bedenken.
Julia Stegt, Geschäftsführerin des Paritätischen Kreis Gütersloh sowie stellvertretende Vorsitzende der AG Wohlfahrt, erinnert zudem daran, dass innerhalb der Wohlfahrt nicht nur Pflegekräfte auf die Schutzmaterialien angewiesen sind. »Auch in den Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen müssen Bewohnerinnen und Bewohner sowie Mitarbeitende geschützt werden«, sagt sie. »Hier besteht ebenso Bedarf, und die Mitarbeitenden sind hier genauso gefordert, die Krise in den Griff zu bekommen.«
»Applaus reicht nicht, wir brauchen endlich genügend Schutzkleidung«, greift deswegen Björn Neßler den Apell der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege auf. Zwar habe das Land NRW einen Erlass zur Verteilung des ihm zur Verfügung stehenden Schutzmaterials verabschiedet. Und am Freitag hatte der Kreis Gütersloh mit der Verteilung der ersten Charge begonnen. Diese sei jedoch nur ein Tröpfchen auf den heißen Stein, so die AGW. »Wir benötigen viel größere Mengen«, betont Neßler. »Hier müssen Bund und Land noch schneller und aktiver werden. Sie können Pflegedienste und Kreisverwaltungen nicht alleine ihrem Dilemma überlassen, die in Sachen Verteilung von Schutzausrüstungen gemeinsam am Ende der Nahrungskette stehen.«
Die AG Wohlfahrt
Die AG Wohlfahrt ist eine Arbeitsgemeinschaft von sechs gemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden im Kreis Gütersloh. Dazu gehören: der AWO Kreisverband Gütersloh, der Caritasverband für den Kreis Gütersloh, der DRK Kreisverband Gütersloh, die Diakonie Gütersloh, die Diakonie Halle sowie der Paritätische Kreis Gütersloh.