Ist der Mensch gut oder böse? Die Antwort lautet: ja. Er ist gut oder böse. Je nachdem. Zunächst einmal muss man natürlich die Begriffe klären – was bedeutet überhaupt »gut« oder »böse«? Und wer ist eigentlich »der Mensch«?
A priori gibt es »gut« und »böse« nicht, es handelt sich um menschliche Konstrukte, die den Kategorien der Moral und der Ethik zugeordnet werden. Dass Ethik und Moral nicht dasselbe sind, versteht sich von selbst – man stelle sich nur einmal vor, der Bundestag hätte keine Ethikkommission sondern eine Moralkommission. Das würde man eher in einem Mullahstaat erwarten. Moral ist das, was als richtig gilt oder den Menschen als richtig oktroyiert wird – Ethik ist hingegen das, was nach menschlichem Ermessen richtig ist. Zwischen diesen Kategorien kann es bekanntermaßen große Unterschiede geben – so gilt beispielsweise Homosexualität gerade in religiösen oder reaktionären Kreisen in der Regel als unmoralisch, aus ethischer Sicht ist sie jedoch ein natürliches Phänomen.
Aber selbst innerhalb dieser Kategorien sind »gut« und »böse« hochdifferenzierte Begriffe. So gilt es gemeinhin als unmoralisch, einen Menschen zu töten – allerdings beispielsweise nicht dann, wenn dieser akut das eigene Leben oder das Leben Dritter bedroht (in diesem Fall gilt das auch als ethisch haltbar). Hier ließen sich zahllose Beispiele konstruieren, die beweisen, dass »gut« und »böse« prinzipiell keine feststehenden, sondern höchst dynamische und kontextuale Begriffe sind. Ganz davon zu schweigen, dass »gut« und »böse« keine Imperative sind – Menschen verhalten sich sogar nach ihren individuellen Maßstäben sowohl »gut« als auch »böse«, neigen aber dazu, zur Wahrung der Integrität ihres Egos ihre Taten a posteriori prinzipiell als »gut« oder zumindest als nicht »böse« zu interpretieren, und sich dafür selbst die entsprechenden Erklärungen zu konstruieren. Taten Dritter werden auf demselben Wege hingegen wahlweise als »gut«, »böse« oder »neutral« bewertet.
Wer ist »der Mensch«? Auch hier muss man differenzieren, was der Ursprungsfrage eine kaum handhabbare Multidimensionalität verleiht. Sprechen wir vom Menschen als Individuum? Als Gruppe wie beispielsweise ein Paar, eine Familie, eine Gemeinde, ein Stamm, Bürgerinnen und Bürger eines Bundeslandes, eines Staates, eines Kontinents oder als Menschheit an sich? Der Kontext liefert an dieser Stelle eine wichtige Voraussetzung, um das Denken und Handeln überhaupt in die Kategorien »gut« oder »böse« einordnen zu können – zum einen hinsichtlich der Frage, wessen Denken und Handeln überhaupt bewertet werden soll, zum anderen hinsichtlich der Frage, in Bezug auf wen oder was dieses Denken und Handeln bewertet werden soll.
Der einzelne Mensch neigt – wie erwähnt – dazu, sein Denken und Handeln a posteriori als »gut« zu interpretieren. Das gilt auch für verschiedene Gruppen von Menschen, womöglich auch für die Menschheit an sich. Einer objek-iven Überprüfung hält diese Bewertung in aller Regel nur selten stand. Sie ist in der Regel noch nicht einmal kategorieübergreifend gültig. Eine Handlung, die für die eigene Peer-Group »gut« ist, ist unter Umständen für alle anderen Menschen »böse«. Umgekehrt gilt dasselbe. Desweiteren kommt bei Menschengruppen die »Psychologie der Massen« zum Tragen (Gustave Le Bon).
Beispielsweise gilt die Gleichbehandlung der Menschen an sich als »gut« (gleichwohl findet sie kaum statt) – in Wirklichkeit ist sie jedoch ungerecht und unter Umständen sogar »böse«. Gleichbehandlung hieße zum Beispiel, dass ein Rathaus über eine große Treppe zugänglich ist – jeder Mensch wird also gleich behandelt und hat seitens der Rathausverwaltung die gleichen Chancen, in das Rathaus zu gelangen. Aber ist das beispielsweise für Rollstuhlfahrer »gut« oder gerecht? Ist es gerecht, dass jemand ein Millionenvermögen erbt und dass ein anderer gar nichts erbt? Dass jemand zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, die richtigen Voraussetzungen hatte, und ein Milliardenvermögen »erwirtschaftet« hat (in Wahrheit haben wir es hier natürlich mit dem marxschen Mehrwertprinzip zu tun)? Dass jemand unter traumatisierenden Umständen aufgewachsen ist? Und als Folge dieser Traumatisierung nun erst recht von seinen Mitmenschen (wenn auch grö tenteils unbewusst) abgelehnt wird, oder diese Umstände (ebenfalls unbewusst) sogar (re-)inszeniert? Nein, das alles ist nicht gerecht. Gerechtigkeit findet derzeit leider nur in Ansätzen statt, wenn überhaupt. Theoretisch haben wir die Mittel, Gerechtigkeit durchzusetzen – aber wir wollen es nicht. Und praktisch können wir (leider) auch gar nicht anders.
Die Menschheit ist im Schlechten geprägt von vermeidbarem Leid, zum Beispiel durch Kriege, Krankheiten oder Hunger, durch Gewalt oder Armut. Natürlich gibt es nicht gegen jede Krankheit ein Mittel, aber viele Krankheiten ließen sich vermeiden. Im Grunde ge- nommen ließe sich jegliches Leid vermeiden und Gerechtigkeit durchsetzen. Dennoch fin- det ubiquitäres Leid statt. Das bedeutet, dass es bestimmte Menschen gibt, die das Leid ausdrücklich wollen – oder man müsste ihnen unterstellen, dass es ihren Intellekt überfordert, dieses Leid wahrzunehmen, und einen Zusammenhang zwischen ihrem Denken und Handeln und diesem Leid herzustellen. Das mag tatsächlich – je nach Abstraktionsgrad und »Entfernung« dieses Leids von der eigenen Person – auf die allermeisten Menschen zutreffen. Aber sicher nicht auf alle.
Wir können nur hoffen, dass es so etwas wie ein »Jüngstes Gericht« nicht gibt ... die Argumente, die wir gegenüber uns selbst gebrauchen, wären dort vergeblich. Etwas realistischer betrachtet können wir ebenso nur hoffen, dass wir uns nicht eines Tages vor einem außerirdischen Rat verantworten müssen, so wie es zum Beispiel in »Star Trek« ersonnen wurde, als sich die Menschheit, vertreten durch die Führungsoffiziere der »Enterprise«, vor dem Rat der »Q« verantworten muss. Dort gelingt immerhin eine Verteidigung durch die Darlegung der Tatsache, dass die Menschheit sich fortentwickelt hat – dennoch steht sie weiterhin unter scharfer Beobachtung durch die »Q«.
Was also steht der Vermeidung von Leid im Wege? Es ist unser Ego. Und ich behaupte, dass es keinen Menschen gibt oder je gab, der in der Lage ist oder war, dieses Ego zu überwinden. Noch nicht einmal Buddha soll dazu vollständig in der Lage gewesen sein – immerhin hat er das der Legende nach erkannt und zugegeben. Aber der buddhistische Weg eröffnet uns die Möglichkeit, zu erkennen, dass es »gut« und »böse« nicht gibt, dass alles einfach so ist, wie es ist, weil es sonst anders wäre, und weil das Universum keine Fehler macht (Byron Katie). Das zu erkennen und nutzbar zu machen spricht Nietzsche dem »Übermenschen« zu (ein Gedanke, der jedoch oft missverstanden wurde und immer noch missverstanden wird).
Wir sollten also das Beste tun, was wir können. Letztlich ist es aber auch gar nicht möglich, das nicht zu tun – und leider ist es auch nicht möglich, mehr als das zu tun. Wir sind »Sklaven des Zufalls« (Nassim Nicholas Taleb), und so etwas wie einen »Freien Willen« gibt es nicht (es gibt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch keinen Zufall, lediglich das Unvermögen, alle kausalen Faktoren zu erkennen und die entsprechenden Schlussfolgerungen daraus zu ziehen – ich halte die Kopenhagener Interpretation der Quantenmechnik für Nonsens, und es gibt tatsächlich Alternativen dazu; schon Erwin Schrödinger hat sich mit seinem bekannten Gedankenexperiment darüber lustig gemacht).
Das einzige, was bleibt, ist unseren Geist weiterzuentwickeln – ein Prozess, der die gesamte Menschheit betrifft, der auf Emergenz beruht, und der evolutionär ist. Ein Prozess der automatisch vonstatten geht (oder eben nicht). Letztlich läuft es auf Byron Katies Lesart des Buddhismus hinaus. Das mag einerseits ein Grund für tiefste Verzweiflung sein, andererseits aber auch Hoffnung geben.
Es gibt dazu eine schöne Geschichte, die Dirk Müller (»Mr. Dax«) gerne zitiert: Ein Junge steht am Strand und wirft angeschwemmte Seesterne zurück ins Meer. Ein Mann tritt hin- zu und sagt zu dem Jungen: »Was tust Du da? Sieh Dich doch einmal um! Der Strand ist kilometerlang, da liegen zehntausende von Seesternen! Du kannst sie nicht alle retten! Und es gibt zehntausende von Stränden auf der Welt!« Und der Junge antwortet: »Ich weiß. Aber diesen hier, den kann ich retten«, und wirft einen weiteren Seestern zurück ins Meer.
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