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Marta Herford, »Ungehorsame Werkzeuge«, 4. Februar bis 29. Mai 2023Zoom Button

Detailansicht: Cinthia Marcelle, A família em desordem, 2018/2023, Unter Beteiligung von Katharina Bednarczyk, Verena Freiberg, Ulrich Graupner, Nicola V. Manitta, Martin Mühlhoff, Linda Pade und Christian Vossiek; Schnürsenkel, Streichhölzer, Baumwollstoff, schwarze Abdeckfolie, Packpapier, Mauerziegel, Malerkreppband, Kreide, Steine, Metalltonnen, Erde, Seil, Notizblöcke, Gaffer Tape, Klettband, Kartonschachteln, Zeitungspapier, Packdecken, Holzlatten, Teppich, Maße variabel; Projektleitung: Aline Tima Produktion: Michael Train (Marta Herford) 3D Modellierung: Maria Leticia Bordignon Courtesy die Künstlerin Realisiert mit freundlicher Unterstützung der Ahlers AG © Marta Herford, Foto: Besim Mazhiqi, Informationen zu Creative Commons (CC) Lizenzen, für Pressemeldungen ist der Herausgeber verantwortlich, die Quelle ist der Herausgeber

Marta Herford, »Ungehorsame Werkzeuge«, 4. Februar bis 29. Mai 2023

Marta Herford, »Ungehorsame Werkzeuge«, 4. Februar bis 29. Mai 2023

Das #Museum #Marta #Herford zeigt mit »Ungehorsame Werkzeuge« vom 4. Februar bis zum 29. Mai 2023 die erste Überblicksschau der international renommierten Künstlerin Cinthia Marcelle (geboren 1974 in Belo Horizonte, lebt und arbeitet in São Paulo, Brasilien) im deutschsprachigen Raum. Seit Ende der 1990er Jahre setzt sie sich in Videos, #Skulpturen, #Fotografien, #Installationen und #Performances kritisch mit etablierten und hierarchisierenden Strukturen in der Gesellschaft auseinander, die unser alltägliches Miteinander bestimmen. Ihr Schaffen ist eine konsequente Weiterentwicklung der gesellschaftspolitischen Kunstproduktion in Brasilien im 20. Jahrhundert, in der sich Materialexperimente mit konzeptioneller Strenge und einer einzigartigen kollaborativen Praxis verbanden.

Die Ausstellung im Marta Herford zeigt ortsspezifisch neu entwickelte, raumgreifende und materialintensive Installationen, bildgewaltige Videos und konstruktivistische Papierarbeiten von 1998 bis heute. Der Ausstellungstitel ist dem gleichnamigen Essay »Herramientas Desobedientes« (2018) der mexikanischen Schriftstellerin und Aktivistin Gabriela Jauregui entlehnt. Jauregui beschäftigt sich darin mit der Frage, wie man aus etablierten patriarchalen sowie westlichen Denkmustern ausbrechen kann. Sie erkennt transformatives und emanzipatorisches Potenzial im gemeinschaftlichen Aushandeln verschiedener gleichwertiger Parteien. In diesem Sinne spiegeln Jaureguis Überlegungen Kernthemen und Arbeitsweisen Cinthia Marcelles Schaffens wider, die auch im Mittelpunkt ihrer Ausstellung im Marta Herford stehen: das Ausbrechen aus etablierten Mustern, die unser Denken bestimmen und hierarchische Strukturen in der Gesellschaft produzieren. Marcelle stellt konventionelle Rollenverteilungen, vertraute #Sichtweisen und Verhaltensweisen sowie vermeintlich feststehende binäre Kategorien wie Ordnung – Chaos, Fiktion – Realität, Regel – Ausnahme, Unterordnung – Widerstand oder Innen – Außen in Frage, um zu verdeutlichen, dass vielfältige Formfindungen und Deutungen möglich sind. Auf verschiedene Weise wird in Marcelles Schaffen immer wieder deutlich, dass die Bedeutung von Konventionen, Normen, Mustern oder etwa Materialien nie festgeschrieben ist und sich je nach Blickwinkel stets ändern kann.

Im Zentrum der Marta Schau steht das zweiteilige Werk »A família em desordem« (Die Familie in Unordnung, 2018/ 2023). Die beiden in zwei voneinander getrennten Räumen installierten Teile bestehen aus der gleichen Zusammensetzung einfacher Materialien, die ordentlich zu einer Barrikade aufgebaut wurden: Mauerziegel, Fässer, Erde, Kreide, Steine, Schnürsenkel, Streichholzschachteln, Baumwollstoff, Malerkreppband, Pappe, Klettband u.a. Für das eine Setting lud Marcelle sieben mit dem Museum vertraute freie Kunstvermittler*innen und Arthandler*innen ein, über sechs Tage gemeinschaftlich, aber ohne die Künstlerin, die Barrikadenstruktur zu zerstören, um so eine neue Form zu generieren. Keine externen Hilfsmittel und Werkzeuge waren hierbei gestattet. Alle Materialien sollten bewegt und der gesamte Raum bespielt werden. »Meine Arbeit beginnt mit einem Vorschlag – einer Geste, einer Aktion, einer Gruppe von Menschen – sich neu zu erfinden, neu zu lernen und neu zu organisieren. Die einfache Prämisse der Erneuerung ist ein Aufruf, sich von vorherrschenden Ideen, Szenarien und Materialverständnissen loszusagen und diese neu zu gestalten, um die Grundfesten einer Institution und eines öffentlichen Raums in etwas zu verwandeln, das wir als Gemeinschaft bezeichnen könnten,« beschreibt Marcelle ihren Ansatz, der sowohl »A família em desordem« als auch vielen weiteren Arbeiten zugrunde liegt. Die Ausstellungsbesucher*innen erleben stets das formalisierte Produkt des gemeinschaftlichen Aushandlungsprozesses. Im Raum verdichten sich Spuren dieser Entwicklung sowie des spielerischen Umgangs der Akteur*innen mit den Materialien zu einer beeindruckend künstlerischen Formensprache, die nicht von der Künstlerin als Genius, sondern als kollaborativer Prozess kreiert wurde. Das zweite Setting von »A família em desordem« zeigt zum einen die Ausgangssituation, quasi den Rohzustand des Werkes. Zum anderen ist die Barrikade hier als Raumtrenner installiert und verhindert den gewohnten Ausstellungsrundgang. Über diese Barrikade hinweg stehen sich die Besuchenden gegenüber und sind gezwungen umzukehren und die Ausstellung, von der anderen Seite kommend, erneut zu besichtigen.

»A família em desordem« ist gleichsam auch eine materielle Retrospektive Marcelles Schaffens. Sie besteht aus zwanzig Materialien, die einmal ordentlich gefaltet, gerollt oder gestapelt und einmal ausgebreitet, verstreut und in voller Länge präsentiert werden. In den weiteren Werken der Ausstellung wird Marcelles vielseitiger Umgang und die Interpretation der immer gleichen Materialien augenscheinlich. Beispielsweise zeigt das partizipative und früheste Werk der Ausstellung »Obra dinâmica: à procura de sentido« (Dynamische Arbeit: Sinnsuche, 1998/ 2022) mehrmals das gleiche Klettband, auf unterschiedliche Weise präsentiert. Unter Aufsicht des Besucherservices oder gemeinsam mit Kunstvermittler*innen dürfen die Besuchenden die Werke deinstallieren und an einem anderen Ort, in anderer Form, neuinstallieren.

In »em-entre-para-perante #2« (in-zwischen-für-vor #2, 2015/ 2023) wurden Schnürsenkel dazu verwendet, Werkzeuge zu bandagieren und auf diese Weise zu entfunktionalisieren. Währenddessen erhalten in den Arbeiten »Por via das dúvidas #3« (Im Zweifelsfall #3, 2009) und »Explicação« (Erklärung, 2009) sowie »Temporário« 13 und 14 (Temporär 13 und 14, beide 2023) im den ersten beiden Fällen Malerkrepp und im letzten Fall Pappen in konstruktivistischen Kompositionen eine neue Funktion. Diese Materialien, die üblicherweise verwendet werden, um etwas ab- oder zuzudecken, erhalten bei Marcelle eine eigenständig kompositorische Qualität. Die rote Erde, die jener in Marcelles Herkunftsregion Minas Gerais nachempfunden ist, und mit der in »A família em desordem« Fässer gefüllt wurden, findet sich gleichsam an den Zaunpfählen von »Cerca Miragem (300 mourãos)« (Zaun Trugbild (300 Pfähle), 2005/ 2023) wieder, die in einem Zwischenstadium auf dem Kopf stehend präsentiert werden. So tragen sie das Potenzial zum Eingrenzen, Abgrenzen und Ausgrenzen zwar in sich, üben dieses aber nicht aus. Dieser offene Umgang mit Materialien ist programmatisch für Marcelles Ansatz und Sinnbild dafür, dass Bedeutungszuschreibungen nichts Feststehendes sind, sondern stets abhängig von den Betrachtenden und der Kontextualisierung.

»A família em desordem« ist ein Experiment, in dem im Kleinen durchgespielt wird, wie wir als Gesellschaften im Sinne einer demokratischen Idee zusammenleben und -arbeiten (wollen). Marcelle setzt auf Methoden des kollektiven Handelns, um verfestigte Mechanismen und Organisationsformen aufzubrechen und neu auszuhandeln. Diese Prämisse ist auch Grundlage vieler ihrer Videoarbeiten, in denen die Künstlerin die Gestaltung des Narrativs, dessen Grundbedingungen sie vorher festlegt, auch hier wieder an eine Gruppe von Personen überträgt, die alle gemeinsam etwas gestalten. Die Protagonist*innen werden nie von Schauspieler*innen dargestellt, sondern von Laien, die ihre Rolle selbstbestimmt gestalten und verkörpern. Die Videoarbeit »Nau/Now« (2017) ist ein Gemeinschaftswerk mit dem Künstler Tiago Mata Machado, welches anlässlich Marcelles Ausstellung im brasilianischen Pavillon auf der 57. Internationalen Kunstausstellung – La Biennale di Venezia 2017 entstand. Die beiden Künstler*innen beauftragten dafür Bauarbeiter*innen, ein Dach von Innen abzudecken – eine Umkehr des gewöhnlichen Arbeitsauftrags. Das Dach, welches normalerweise etwas Schützendes symbolisiert, wird hier dekonstruiert. Es entsteht so eine Metapher für ein gesellschaftliches Aufbegehren gegen eine Institution, die im eigentlichen Sinne Schutz und Stabilität garantieren soll, aber dieses Versprechen nicht einlöst. Einen ähnlich revolutionären Charakter weist »Confronto« (»Konfrontation« aus der Serie »Unus Mundus«, 2005) auf. Die Kamera ist dabei auf eine Straßenkreuzung gerichtet, auf der sich immer dasselbe Spiel wiederholt: Zu jeder roten Ampelphase tritt eine Gruppe von zunächst zwei, dann vier, denn sechs Jongleur*innen auf und jongliert mit Fackeln auf dem Zebrastreifen vor den Autos. Wenn die Ampel auf Grün wechselt, treten sie ab und lassen die Autos passieren. Wenn die Jongleur*innen als Achtergruppe auf dem Zebrastreifen jonglieren und die Ampel auf Grün schaltet, wird diese Routine unterbrochen. Sie setzen ihre Darbietung diesmal fort und stören so als Gruppe in Form einer Barrikade den Verkehrsfluss, der durch die Verkehrsordnung, hier in Form der Ampel, organisiert wird. Es beginnt ein lautes Hupkonzert der verärgerten Autofahrer*innen, die sich ihres Rechts zu fahren beraubt sehen. Die Straßenkünstler*innen stellen mit ihrer Aktion eine geltende Rechtsordnung und einen gewohnten Mechanismus in Frage, der meist gar nicht mehr hinterfragt wird, weil er so verinnerlicht ist. Dadurch wird ein vertrautes System außer Kraft gesetzt und die Instabilität eben dieses Systems offengelegt.

Cinthia Marcelle verbindet Kunst und Alltag, indem sie alltägliche Situationen und Handlungsabläufe in den Blick nimmt und zu poetisch-metaphorischen Aktionen und Bildern werden lässt – nicht selten wird dadurch die Absurdität verinnerlichter Routinen offenbart. »In Marcelles Werk verschmelzen Bezüge zum Neoplastizismus, zur Arte Povera und zur Konzeptkunst mit Einflüssen des brasilianischen Neokonkretismus, des Cinema Novo und Marginal sowie mit populären kulturellen Praktiken wie Capoeira Angola, die in der afro-brasilianischen Tradition wurzelt. Marcelles abstrakte und metaphorische Bildsprache eröffnet vielschichtige Interpretationen und Reflektionen über unser Zusammenleben sowie der Organisation von Produktionsprozessen«, stellt Anna Roberta Goetz, die Kuratorin der Ausstellung fest. »Mit Marcelles Einzelausstellung startet unser Jahresprogramm mit einer bereits international bekannten, aber in Deutschland bisher noch nicht ausgestellten Künstlerin. Wir überlassen ihr unsere einzigartigen Räume, um zu zeigen, wie ein kollaborativer Prozess zu faszinierend schönen und klugen Werken und damit auch zu spannenden Diskussionen und Erkenntnissen führen kann« ordnet Kathleen Rahn, die Direktorin des Museums Marta Herford das Projekt ein.

Anlässlich Marcelles Ausstellung im Marta Herford wurde in Zusammenarbeit mit dem Museu de Arte de São Paulo (MASP) die erste umfangreiche Monografie zum Schaffen von Cinthia Marcelle seit Ende der 1990er-Jahre herausgegeben, die im Kerber Verlag erscheint. Die umfangreiche Publikation gibt mit fünf Essays und zahlreichen Abbildungen erstmals einen vielschichtigen und analytischen Einblick in das Werk Marcelles im Spiegel vielfältiger gesellschaftlicher Diskurse.

Biografisches

Cinthia Marcelle wurde 1974 in Belo Horizonte (Brasilien) geboren, sie lebt und arbeitet in São Paulo. Die Bedeutung Marcelles Œuvres wurde international bereits durch zahlreiche projektbezogene Einzelausstellungen, u.a. am Wattis, San Francisco; Modern Art Oxford; MoMA PS1, New York; PinchukArtCentre, Kiev, und Beteiligungen an Gruppenausstellungen der Tate Modern, London; dem SFMOMA, San Francisco; dem Museu de Artes Visuales de Santiago, Chile; dem #Museum of the African Diaspora, San Francisco u.a. sowie namhaften Biennalen wie der 10. Berlin Biennale (2018), der 11. und 12. Sharjah Biennale (2013 und 2015), der 13. Istanbul Biennale (2013), der 29. São Paulo Biennale (2013) gewürdigt – 2017 bespielte sie zudem den brasilianischen Pavillon auf der 57. Biennale von Venedig. Jüngst wurden ihr zwei Überblicksausstellungen gewidmet: Im MACBA Museu d’Art Contemporani de Barcelona und dem Museu de Arte de São Paulo (MASP) (beide 2022) und nun schließlich im Marta Herford.

Neben ihrer künstlerischen Praxis engagiert sich Marcelle als Mitgründerin einer von #Trans #Personen mit der Unterstützung von Cis Personen gegründeten Nichtregierungsorganisation namens Casa Chama, die sich mittels einer antirassistischen und gegen Transphobie gerichteten Ethik für die Trans Bevölkerung und deren Emanzipation sowie für Respekt und Lebensqualität im sozialpolitischen und kulturellen Bereich einsetzt. Marcelle ist als Cis-Verbündete in den Bereichen Personenstandsänderung sowie Kultur aktiv.

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